Die Wissenschaft vom Christlichen Orient befaßt sich mit den geistigen und materiellen Kulturen der orientalischen Christen. Sie bilden keine einheitliche Kirche und gehören verschiedenen Kulturen an. Ihre Geschichte beginnt in der Zeitenwende und dauert bis heute. Ihr Lebensraum reicht traditionell vom Kaukasus im Norden bis nach Äthiopien im Süden, vom Mittelmeer im Westen bis nach China im Osten. Aufgrund der neuzeitlichen Migrationsbewegungen gibt es heute Gemeinschaften, Kirchen und Gruppen orientalischer Christen in der ganzen Welt: in Europa, Australien, Afrika, Latein- und Nordamerika wie auch in den traditionellen Gebieten.
Die verschiedenen Völker, Kirchen und Gemeinschaften, die Gegenstand der Wissenschaft vom Christlichen Orient sind, bilden aufgrund ihres christlichen Glaubens eine Einheit. Diese ist nicht nur formeller Art, sondern inhaltlich vorgegeben. In der Geschichte wie in der Gegenwart war der kulturelle und wissenschaftliche Austausch intensiv, und es gab ständig Begegnungen zwischen den Angehörigen der verschiedenen Kulturkreise. Das gemeinsame Menschenbild und die gemeinsame Religion entwickelten eine Dynamik, die die jeweiligen Kulturen inhärent in der Entwicklung vorantrieben, die Identität der Völker und Menschen prägte und gleichzeitig die Gemeinsamkeit tiefer erfahren ließ. Deshalb ist die Wissenschaft vom Christlichen Orient ihrem Wesen nach seit ihren Anfängen eine Wissenschaft, die eine interkulturelle Fragestellung hat. Grundlagen für ein angemessenes Verständnis der kulturellen, der kontextuellen und interkulturellen Vorgänge sind die überlieferten Kulturdenkmäler und Zeugnisse, an erster Stelle die schriftlichen Urkunden der Kulturen.
Da ein Großteil der Dokumente der orientalischen Christen bis heute nur in Manuskripten vorliegt, von denen viele noch nicht einmal katalogisiert sind, ist eine der wichtigsten Aufgaben deren Erschließung, womit diese Texte erst verschiedenen anderen Wissenschaften (Theologie, Kaukasistik, Islamologie, Byzantinistik, Indologie, zentralasiatische Studien, Ägyptologie, Afrikanistik, Jura, Geschichte, Religionswissenschaft, Völkerkunde, Politologie etc.) zugänglich gemacht werden.
Die philologische Erschließung dieser Urkunden ist die erste Aufgabe in dieser Wissenschaft. Die wichtigsten Sprachen sind Syrisch, Arabisch, Koptisch, Alt-Nubisch, Alt-Äthiopisch, Armenisch und Georgisch.
Die zweite wesentliche Aufgabe besteht in der inhaltlichen Erschließung der Texte. Der intensive Austausch zwischen den verschiedenen Gemeinden und Völkern führte zu einer kulturellen Vermischung und theologischen Angleichung, deren Verständnis eingehende Kenntnisse der Ursprünge erfordert. Um den kulturellen Kontext der Christen zu erschließen, ist die Wissenschaft vom Christlichen Orient auf die Kooperation mit den Nachbardisziplinen angewiesen.
Die Wissenschaft vom Christlichen Orient läßt sich in verschiedene Schwerpunkte oder Einzelgebiete teilen. Dabei darf der Gesamtzusammenhang dieses Forschungsgebietes nicht aus den Augen verloren werden, um die Ergebnisse richtig zu gewichten. Forschungsschwerpunkte oder Einzeldisziplinen werden überwiegend nach sprachlich-geographischen Gesichtspunkten voneinander abgegrenzt. So befassen sich mit den Literaturen, der Theologie, der Kultur, der Kunst, dem Gemeinwesen und der Geschichte.
- der äthiopischen Christen die Äthiopistik
- der nubischen Christen die Nubiologie
- der ägyptischen Christen die Koptologie
- der syrisch-sprachigen Christen vom Mittelmeer bis nach Indien die Syrologie
- der arabisch-sprachigen Christen die Christlich-arabischen Studien
- der christlichen Armenier die Armenologie
- der christlichen Georgier die Georgistik
Die Einzeldisziplinen sind aufeinander verwiesen. So hatte das syrische Kloster in Ägypten eine große kulturelle Bedeutung, auch wenn es nicht koptisch-sprachig war. Entlang der Seidenstraße und in Indien gab es aber nicht nur syrisch-sprachige Christen, sondern unter anderem auch Armenier. Palästina mit der Stadt Jerusalem war Anziehungspunkt für alle Christen, die dort auch ihre eigenen Niederlassungen errichteten. Das Phänomen der christlich-arabischen Literatur zeigt, wie die verschiedenen christlichen Kirchen nach den islamischen Eroberungen eine gemeinsame theologische Sprache entwickeln und sich literarisch intensiv austauschen, gleichzeitig aber auch ihre Wurzeln bewahren und für die Zukunft der jeweils eigenen Kirche fruchtbar machen. Aufgrund der angedeuteten Vernetzung der Geschichte der einzelnen orientalischen Kirchen kann die Summe der Einzeldisziplinen noch nicht die Wissenschaft vom Christlichen Orient ergeben, sondern erst das Studium des Verhältnisses der einzelnen Kirchen zueinander und ihres sozio-kulturellen und politischen Kontextes.
Neueste Kommentare