Hüseyin I. Cicek, Martyrium zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit. Eine Kriteriologie im Blick auf Christentum, Islam und Politik

Hüseyin I. Cicek, Martyrium zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit. Eine Kriteriologie im Blick auf Christentum, Islam und Politik (Beiträge zur mimetischen Theorie. Religion – Gewalt – Kommunikation – Weltordnung 31), Lit-Verlag Münser, 2010 (Zugl. Innsbruck, Univ., Diss., 2010) ISBN 978-3-643-50318-3. 219 S.

Der französische Literaturwissenschaftler, Kulturanthropologe und Religionsphilosoph René Girard ist Autor der mimetischen Theorie, dessen Kernaussage ist, dass das natürliche Nachahmungsbegehren des Menschen zu Gewalt führt, die sich vorübergehend durch einen Sündenbock stoppen lässt. Die Gewaltmechanismen sind dem Menschen verborgen, erst die allmähliche Offenlegung deckt diese auf. Dieser Mechanismus ist Ursprung und Kern der Religion. Die Offenlegung der Mechanismen beginnt mit der der jüdisch-christlichen Tradition und findet im Kreuzesstod Christ ihre Vollendung. Damit kommt dem Christentum die zentrale Bedeutung für die Überwindung der Gewalt zu.

Das hier zu besprechende Werk nimmt die mimetische Theorie zur Grundlage für die Analyse des Martyriums in Christentum, Islam und Politik. Das Werk ist in einer Reihe verschiedener Untersuchungen von Religion und Gesellschaft auf der Grundlage der mimetischen Theorie veröffentlicht. Die mimetische Theorie wurde in Deutschland erst seit Raymund Schwagers Werk „Brauchen wir einen Sündenbock?“ (1978) zunächst zögerlich rezipiert.

Nach einem Vorwort (11) und einer Einleitung (13-15) stellt der Autor noch eine „Kurze Vorgeschichte der Kriteriologie des jüdischen Martyriums“ (17-32) voran. Die jüdischen Martyriumskriterien sind danach von den beiden anderen abrahamitischen Religionen übernommen und uminterpretiert oder verworfen worden (11). Gemäß den Märtyrerakten gibt es fünf Kriterien für das jüdische Martyrium:

  1. Mächte, die den Juden das Leben gemäß ihrer Schrift verbieten
  2. Treue der Juden gegenüber der Thora trotz ihres Status
  3. Gewaltanwendung, welche die Juden untreu werden lässt
  4. Martyrium aufgrund der Treue zu Thora/Gott in den drei Fällen Götzendienst, Unzucht und Mord
  5. Die Gewissheit, dass Gott die Haltung der Gläubigen zur Kenntnis nimmt und belohnt und Gottes Rache über die Mörder kommt (22).

Bei weiteren Untersuchungen der Texte kommt der Autor zu dem Schluss, dass die Juden nicht nur als Zeugen des wahren Glaubens sterben sondern auch stellvertretend für das eigene Volk, dessen Sünden so gesühnt werden (25). Damit kommt der Autor zu einem Kerngedanken der mimetischen Theorie.

Im darauf folgenden Kapitel „Auf der Suche nach einer Kriteriologie des christlichen Martyriums“ (33-76) stellt der Autor zunächst die sieben Kriterien vor, die er in den Märtyrerakten gefunden hat, bevor er sie an zwei Beispielen (Polykarp und Christian de Chergé) verifiziert:

  1. Das Martyrium kann einen Christen in christlicher und nicht-christlicher Umgebung ereilen.
  2. Das christliche Martyrium ist mehr ein Tat-, denn ein Wortzeugnis
  3. Der gewaltsame Versuch, den Christen davon abzuhalten, Christus zu folgen
  4. Der gewaltsame Tod aufgrund der Treue zu Jesus
  5. Fürbitte und Vergebung für die Peiniger und die gesamte Menschheit
  6. Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung
  7. Das Erleiden des gewaltsamen Todes (35).

Für den Autor ist ein entscheidender Unterschied zu dem jüdischen, wie auch später zum islamischen Martyrium, dass es hier nicht um die Treue zu einer Schrift oder einem Gesetz geht, sondern um die Treue zu einem Menschen, der selbst das Martyrium erfahren hat. Es geht also um die Imitatio Christi in seiner Treue und Gewaltlosigkeit (38).

Quasi in einem Exkurs stellt der Autor dann die dramatische Theologie Raymund Schwagers dar, der als einer der ersten deutschsprachigen Theologen die mimetische Theorie auf das Leben und Sterben Christi angewendet hat (47-59). Im Lichte des Evangeliums, aber vor allem auch im Lichte der mimetischen Theorie deutet der Autor dann die christlichen Martyrien als eine Aufdeckung der Gewaltstrukturen. Sie legen letztlich offen, dass die Gewalt nicht von Gott, sondern vom Menschen kommt. Gott braucht auch keine Märtyrer, damit gibt es auch keinen Stellvertretungsgedanken im christlichen Martyrium (60-69). Zum Schluss fügt er noch das Beispiel eines modernen christlichen Märtyrers aus der Nazi-Zeit an (69-76).

Im nächsten Kapitel „Auf der Suche nach der Kriteriologie im islamischen Martyrium“ erarbeitet der Autor zunächst anhand von Märtyrererzählungen aus verschiedenen Epochen die Kriterien für ein islamisches Martyrium (77-103). Er berücksichtigt dabei sowohl schiitische als auch sunnitische Traditionen. Die sehr disparaten Erzählungen lassen sich auf den gemeinsamen Nenner „auf dem Weg Allahs gestorben“ bringen, wobei der Weg ausgesprochen verschieden sein kann. Es muss noch nicht einmal zu einer gewaltsamen Tötung kommen. Am Ende der Betrachtung stellt er sechs Kriterien für ein islamisches Martyrium dar:

  1. Muslims können auf islamischen wie auf nicht-islamischen Territorien Märtyrer werden
  2. Jeder Muslim kann Märtyrer werden auch ohne kriegerische Auseinandersetzung
  3. Das Martyrium gründet auf der Treue zur Schrift/zu Gott
  4. Es besteht die Gewissheit, dass Gott die Haltung der Märtyrer zur Kenntnis nimmt und belohnt, und gleichzeitig wird auf die Rache Gottes an den Übeltätern gehofft.
  5. Das Martyrium darf aktiv gesucht werden
  6. Märtyrer kommen sofort ins Paradies (102-103).

Das Kapitel „Auf der Suche nach einer Kriteriologie des politischen Martyriumsverständnisses“ (105-139) untersucht den dritten hier zu behandelnden Bereich. In einem ersten Teil beschreibt der Autor, was unter einem politischen Mätrtyrer zu verstehen ist, nämlich „eine Person, die sich auf Gedeih und Verderb für die Gemeinschaft eingesetzt hat. Für die Gesellschaft, der die Person angehört, sind ihre Taten Ausdruck höchster Liebe … Somit dienen die politischen Märtyrer als Advokaten der Wahrheit, die die Gemeinschaft in ihrem Sein festigen sollen.“ (107). Auf die verdeckt religiöse Dimension der Politik weist der Autor im Folgenden hin, bevor er das politische „Märtyrerverständnis des europäischen Nationalismus“ behandelt (111-118). In einem Unterkapitel wird dann – etwas unerwartet – auch der islamische Nationalismus thematisiert. Hier wird differenziert zwischen dem arabischen islamischen Nationalismus, der keinen Personenkult kenne, und dem türkischen Nationalismus, der mit seinem Personenkult auf vorislamische Zeiten zurückgreift. Wohl kennt die schiitische Richtung des Islam einen Personenkult, der auch in der Islamischen Republik Iran zum Tragen kommt. (118-126). Es folgt die Analyse des politischen Martyriumsverständnisses im Bolschewismus (126-132) und Nationalsozialismus (132-137). Die aus der Analyse erstellten fünf Kriterien werden ausführlicher als vorher beschrieben (137-139). Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Politische Märtyrer des europäischen Nationalismus besitzen keinen universalen sondern nur einen rein nationalen Charakter, „ihr Blut bildet eine Art mystische Substanz, aus der das Volk wiedergeboren werden soll.“
  2. Politische Märtyrer lassen sich als eine Art „Sühneopfer“ verstehen, vor allem wenn die Gemeinschaft sich von den Traditionen entfernt hat. Durch sie geschieht eine Art Wiedergeburt der Nation.
  3. Politische Märtyrer des europäischen Nationalismus schaffen eine Vorstellung von einer Blutgemeinschaft, zu der andere keinen Zugang haben.
  4. Der arabische Nationalismus hat, im Gegensatz zum europäischen und türkischen, nicht auf die heidnische Zeit zurückgegriffen. Dies ist nach dem Autor wohl der wichtigste Grund dafür, dass sich der arabische Nationalismus in Richtung Fundamentalismus entwickelte.
  5. Religion wird auf der Grundlage völkischen Gedankenguts interpretiert und der universelle Charakter der Gottebenbildlichkeit weginterpretiert. Das Heil ist partikular und nicht mehr universal.

Auf den folgenden sechs Seiten (141-146) vergleicht der Autor das christliche, islamische und politische Martyrium. In den abrahamitischen Religionen ist das Martyrium als Zeugnis ablegen für Gott der höchste Liebesbeweis. An Märtyrer können sich die Gläubigen ausrichten. Das Martyrium im Christentum unterscheidet sich in einem Punkt wesentlich von dem islamischen und dem jüdischen: es ist die Nachfolge, Imitation des Martyriums des Gottmenschen. Der Autor nennt die christlichen Märtyrer Tatzeugen, die jüdischen und muslimischen Märtyrer sind Wortzeugen, da sie das in der Schrift festgehaltene Wort bezeugen. In den jüdischen und islamischen Martyrien werden die Henker verdammt, während in der christlichen Tradition für die Henker gebetet wird. Zudem verbietet das christliche Martyrium jegliche Gewalt. In allen drei Traditionen soll, wenn möglich, dem Martyrium entflohen werden.

Im Gegensatz dazu lassen die politischen Märtyrer ihr Leben stellvertretend für das Volk. Sie sollen das völkische Bewusstsein wecken. Grundlage ist, dass sich ein Volk als auserwählt betrachtet. So können die anderen Völker dämonisiert werden.

Auf den Seiten 147-167 stellt der Autor die mimetische Theorie von René Girard dar. Dann betrachtet er erneut das Martyrium im Christentum, im Islam sowie im Nationalismus, Bolschewismus und Nationalsozialismus aus der Sicht der Mimetischen Theorie (167-194). Es folgen eine Zusammenfassung (195-199), ein Literaturverzeichnis (201-216) und ein Personenregister (217-219).

Das Werk behandelt ein gerade in heutiger Zeit wieder virulent gewordene Frage nach den Märtyrer. Aus den Medien bekannt sind die vielen Märtyrer im Islam, die durch Selbstmordanschläge umgekommen sind, als Täter wie auch als Opfer. Aber auch im Christentum wird verstärkt die Verfolgung von Christen betont, die auch in einem Martyrium enden kann. In einer solchen Situation ist es wichtig, klare Kriterien zu haben, um einer Inflation des Gebrauchs des Märtyrerbegriffs vorzubeugen. Die vergleichende Untersuchung kommt somit zur rechten Zeit.

Die mimetische Theorie ist dabei hilfreich, die Gewaltdimension bei den unterschiedlichen Märtyrerbegriffen zu beleuchten. So können deutliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden, vor allem auch im Hinblick auf die Bedeutung des Martyriums für die Gesellschaft. Es ist nicht überraschend, dass sich bei der Analyse der Martyrien in den verschiedenen Religionen und Pseudo-Religionen mit Hilfe der mimetischen Theorie das christliche als die Vollendung der Gewaltfreiheit herausstellt.

Dem Werk fehlt ein strenger logischer Aufbau. Inhaltlich kommt es immer wieder zu Wiederholungen und die Gedanken werden in konzentrischen Kreisen weiter entwickelt. Die Auswahl der Martyrien für die Analyse ist nicht begründet und erscheint eher zufällig. Ein weiteres Manko ist das Fehlen der französischsprachigen Literatur. Gerade in der französischsprachigen Theologie und Philosophie sind viele Werke zu René Girards mimetischer Theorie erschienen.

Insgesamt ist die Arbeit lesenswert, auch für den Nicht-Fachmann.

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